Archiv der Kategorie: 2013

Our Curse / Nasza Klątwa

Nasza Klątwa (englischer Verleihtitel Our Curse) ist ein autobiografischer Kurzfilm des polnischen Regisseurs Tomasz Śliwiński, in dem er erzählt, wie seine Familie mit der Krankheit seines Sohnes Leo umgeht.

Leo ist vom Undine-Syndrom betroffen, das im polnischen und englischen als Undine-Fluch bezeichnet wird. Undine-Kinder atmen flacher als gesunde Kinder, und im Schlaf kommt es zum Atemstillstand, so dass sie im Schlaf immer beatmet werden müssen.

Śliwiński zeigt die Sorgen und Zweifel, die seine Frau Magda und er haben, als sie Leo nach Hause holen. Wir begleiten die Eltern, wie sie lernen, mit der Krankheit und der Beatmungsmaschine umzugehen.

Durch die Selbstauslöser-Perspekive bietet der Film gerade zu Beginn einen sehr persönlichen und intimen Einblick in die Gedanken der Eltern. Śliwiński ist es gelungen, einen anrührenden Einblick in das Leben mit dem Undine-Sydrom zu geben.

Familjen Persson i främmende land

In Familjen Persson i främmende land (engl. Titel Displaced Perssons) erzählen Åsa Blanck und Johan Palmgren die Geschichte eines Schweden, der nach vierzig Jahren in Pakistan mit seiner pakistanischen Frau und seinen dort geborenen Töchtern nach Schweden zurückkehrt.

Das Format ist aus dem Privatfernsehen hinreichend als Auswanderersoap bekannt. Der Vater versucht, wieder in Schweden Fuß zu fassen. Das fällt nicht leicht: weder ihm, noch seiner schwedischen Familie, noch der schwedischen Verwaltung. Seine Frau und seine Töchter versuchen, sich in dem fremden Land zurecht zu finden.

Der Film lohnt sich trotzdem. Blanck und Palmgren begleiteten die Familie über fünf Jahre. Deshalb können sie Geschichten erzählen, die weit über die ersten Überraschungen und Begegnungen hinaus reichen.

Außerdem haben sie in dem Kinderbuch Bosse og Pelle, das nach der Familienerzählung der Auslöser für Pelle Perssons Wanderlust war, Inspiration für einen schönen erzählerischen Rahmen gefunden, der den Film klar strukturiert.

Ein gelungener, ein schöner Film.

Dirty Wars

Richard Rowley folgt in Dirty Wars dem Journalisten Jeremy Scahill bei seiner Recherche zu den sogenannten gezielten Tötungen durch US-amerikanische Geheimdienste und Militärs.

Scahill schildert im Rückblick, wie seine Recherche mit einem Vorfall ein Paar Stunden außerhalb von Kunduz begann und ein bis dahin unvorstellbares Ausmaß dieser Seite des Kriegs aufdeckte.

Die Recherchen sind bereits in Zeitschriften, Zeitungen und als Buch veröffentlicht. Jetzt, etwa vier Jahre nach Beginn seiner Recherche, ist deshalb vieles nicht mehr so überraschend, wie es für ihn war.

Daher wirkte der Film auf mich am Anfang etwas naiv. So stößt er auf eine geheime Spezialeinheit, das Joint Special Operations Command (JSOC). Erst mit den Bildern von der Tötung Bin Ladens wurde mir bewusst, dass mir JSOC auch erst seit Mai 2011 ein Begriff ist.

Der Film erzählt also wenig Neues, und auch die Erzähltechnik ist nicht besonders innovativ. Dennoch bleibt es ein gut gemachter Film, der eine wichtige Geschichte für ein größeres Publikum erzählt.

Sehenswert, aber den Oscar, für den der Film nominiert ist, hat er aus meiner Sicht nicht verdient.

 

Alphabet

Alphabet des ist eine Auseinandersetzung des österreichischen Regisseurs Erwin Wagenhofer mit den Bildungssystemen dieser Welt. Er porträtiert eine Reihe von Menschen, die sich kritisch mit Bildung auseinandersetzen oder besondere Bildungswege gegangen sind.

Obwohl er mit Arno Stern einen Aktivisten für das freie, selbstbestimmte Lernen porträtiert, gibt Wagenhofer keine Antworten. Pablo Pineda Ferrer hat innerhalb des Schulsystems den Lehrer gefunden, der in dem Kind mit Down-Syndrom den künftigen Psychologie-Professor sah.

Die Frage Pineda Ferrers, die auch den Untertitel des Films prägte, ist zwar rhetorisch, wirft aber eben neue Fragen auf: Wollen wir unsere Kinder mit Furcht oder mit Liebe erziehen?

Der Film ist nicht ausgewogen, Wagenhofer will, dass wir die Annahmen hinter unseren Schulsystemen hinterfragen. Aber da er keine vermeintlich einfachen Antworten gibt, ist er dennoch nicht einseitig. Alles in allem gehört er zu den Filmen, an die ich besonders häufig zurückdenke, weil er im positiven Sinne beunruhigend ist.

So hat mich doch erstaunt, wie Andreas Schleicher von der OECD einerseits zum chinesischen System kommentiert, dass man das seinen Kindern nicht wünschen würde, aber andererseits die “objektiven” Erfolge Chinas bei den PISA-Studien würdigt.

Alphabet läuft zur Zeit in vielen deutschen und österreichischen Kinos.

 

Cutie and the Boxer

Mit Cutie and the Boxer hat Zachary Heinzerling einen wunderbaren Film über Kunst und Liebe geschaffen.

Die Kamera folgt der japanischen Künstlerin Noriko Shinohara, die in einer Graphic Novel ihre Ehe mit dem boxenden Künstler Ushio Shinohara Revue passieren lässt.

Noriko kam als junge Frau nach New York City, weil ihre reichen japanischen Eltern ihre künstlerische Entwicklung fördern wollten. Sie trifft den zwei Jahrzehnte älteren Ushio, der sich als erster Action Painter in Japan einen Namen gemacht hatte und ebenfalls sein Glück in New York suchte.

Ushio wird ihr Lehrer, Mentor, Ehemann. Es zeigt sich schon bald, dass der Künstler neben sich keine andere Künstlerin dulden will oder kann. Seine Alkoholismus verhindert, dass aus Erfolg als Künstler auch wirtschaftliche Stabilität wird. Erst jetzt, vierzig Jahre später, wagt Noriko es, sich von ihrem Mann künstlerisch zu emanzipieren.

Gleichzeitig sind beide einander in tiefer Zuneigung verbunden. Nur die Kunst und das Reden über Kunst ermöglicht es den beiden, das auch zum Ausdruck zu bringen. So fragt Ushio beim Betrachten der Geschichte, die seine Frau malt, ob die Frau den Mann liebt. Noriko bejaht (“Sehr”) und Ushio ist glücklich.

Ushio hat in jungen Jahren großen Erfolg mit geboxten Bildern gehabt. Und noch im hohen Alter steigt er mit seinen Leinwänden in den Ring um immer wieder neue Variationen seines originellen Einfalls zu schaffen. In einer Frühstücksszene zu Beginn des Films erklärt er, dass Spielberg nach Dem Weißen Hai nichts großes mehr geschaffen habe; Das erste Werk sei immer das beste. Diese Szene ist der Schlüssel zu seinem künstlerischen Dilemma. Er sucht nach dem zweiten genialen Einfall, aber nichts erreicht seine erste Idee.

Trotzdem gehen beide weiter Tag für Tag ins Atelier. Sie können nicht anders als Kunst zu schaffen.

So müssen wir uns Cutie und ihren Boxer am Ende in der Kunst und in der Liebe trotz allem als glückliche Menschen vorstellen.

 

Dangerous Acts Starring Unstable Elements of Belarus

Dangerous Elements Starring Unstable Elements of Belarus ist ein Film der US-amerikanischen Regisseurin Madeleine Sackler über das oppositionelle Belarus Free Theatre.

Sackler schafft es, das Gefühl der fehlenden Freiheit, wie es in der Diktatur Lukaschenkos in Weißrusslands herrscht, nachspürbar zu machen.

Das gelingt einerseits durch eindrückliches Bildmaterial von den Demonstrationen nach der Wiederwahl Lukaschenkos 2010. Nachdem friedliche, aber eindeutig regierungskritische Demonstrationen gewaltsam beendet werden, bringen die Menschen ihren Protest zum Ausdruck, indem sie still durch Minsk gehen und ab und zu in Applaus ausbrechen. Als die Staatsmacht wahllos Menschen aus den Gruppen heraus verhaftet, wird klar, dass im Zweifel nicht einmal mehr der Anschein von Rechtsstaatlichkeit gewahrt werden wird.

Die Theatergruppe selbst führt ebenfalls eine Existenz, deren Ambivalenz die mangelnde Freiheit umso bedrückender macht. Drei Mitglieder der Gruppe hatten offen einen Gegenkandidaten Lukaschenkos unterstützt und gehen ins Exil, um einer Verhaftung zu entgehen. Gemeinsame Auftritte sind fortan nur noch im Ausland möglich. Dabei setzt sich die Kompanie beispielsweise im Stück “Minsk 2011″ kritisch mit der Regierung Weißrusslands auseinander und gewinnt beim schottischen Fringe Festival den Theaterpreis.

Dennoch kehrt ein Teil der Gruppe zurück nach Weißrussland zu den jeweiligen Familien. Sie führen auch weiterhin Stücke in Minsk in einem Untergrundtheater auf. Gleichzeitig ist für die im Exil lebenden Mitglieder der Weg zurück versperrt.

Gerade diese Ambivalenz von Freiheit und Unfreiheit, die nicht Schwarz-Weiß ist, sondern Abstufungen der individuellen Freiheit zwischen den verschiedenen Akteur*innen erkennen lässt, macht den Mangel an Freiheit umso beklemmender.

Nicht einmal die Unfreiheit ist sicher.

The Good Son

The Good Son von Shirley Berkovitz erzählt die Geschichte von Or, der seine Eltern um die gesammelten Ersparnisse betrügt, um seine Geschlechtsanpassung in Thailand bezahlen zu können.

Dabei kann Berkowitz zunächst auf umfangreiche Videoaufnahmen zurück greifen, mit denen Or das eigene Dilemma und den Betrug dokumentiert. Berkowitz ist ab dem Flug nach Thailand dabei.

Sie folgt Or nach der Operation in die Rehabilitation und dann zurück nach Israel. Als “Fly on the Wall” verzichtet sie gänzlich auf Interviews und eigene Kommentare. Or ist durch den Betrug keine einfache Heldin. Erst die wirklich grausame Reaktion ihres Vaters, als er erfährt, dass er fortan eine Tochter hat, ließ mich glauben, dass es für sie vielleicht wirklich keinen anderen Weg gab.

Dennoch ist der Film ein optimistischer Film: Or ist eindeutig bei sich angekommen, und ihre Familie (Bruder, Mutter, Vater) brauchen zwar unterschiedlich lange, aber sie alle nehmen Or am Ende so an, wie sie ist.

 

Shado’man

Shado’man von Boris Gerrets folgt dem Leben von Menschen mit Behinderung in den Straßen von Sierra Leone.

Der Film ist visuell beeindruckend, da er komplett nachts gedreht wurde. Gerrets griff während der Dreharbeiten auf die Werke von Breughel und Rembrandt zurück, und der Film erinnert an deren Kunst, mit Dunkelheit zu malen.

Man spürt, dass Gerrets seinen Charakteren mit großem Respekt begegnet, so dass ein Film entstanden ist, der einer Gruppe von Menschen folgt und sie ihre Geschichten erzählen lässt.

Eine Auswahl an Filmstills befindet sich auf der Website des Films.

Das fehlende Bild

Das fehlende Bild (L’image manquante) ist ein autobiografischer Film des in Frankreich lebenden Rithy Panh. Er erzählt über die Kindheit Panhs im Kambodscha Pol Pots.

Neben der beeindruckenden Schilderung seiner Zeit im Arbeitslager setzt sich Panh mit dem fehlenden Bild auseinander. Es existieren nur Propagandafilme, aber die Erinnerungen von Panh werden nicht von Filmmaterial bezeugt.

Anstatt die Szenen mit Menschen nachzustellen (Re-Enactment) und so eine Scheinauthentizität zu erzeugen, greift Panh auf Lehmfiguren zurück. Er stellt die etwa handgroßen Figuren für die Szenen seiner Erinnerung im Reisfeld auf und fährt mit der Kamera diese Stillleben ab, um seine Erinnerungen zur bebildern.

Er erinnert mich damit an den israelischen Film Waltz with Bashir des Regisseurs Ari Folman, der seinen Kriegserinnerungen nachspürt und diese mit Trickfilm bebildert. Auch Folman kann nicht auf Bilder zurück greifen.

Der Film gewann 2013 einen Preis in Cannes, lief in der Rithy-Panh-Retrospektive beim IDFA 2013 und wurde bereits am 6. Dezember 2013 auf Arte ausgestrahlt.